this post was submitted on 25 Dec 2024
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Nahost

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Nahost

Olivenbaum nahe Aleppo

Nachrichten, Kultur und hoffentlich kulinarisches mit Bezug zum "nahen Osten". Aufgrund des sehr groben Verständnisses in Deutschland schließt das alles von Marokko im Westen bis Afghanistan im Osten ein. Themen der Diasporas, sowie die Beziehung zu anderen Ländern in der Welt sind ebenso willkommen. Bei Posts bitte möglichst deutsche Quellen nutzen und bei Bedarf englische mit verlinken.

Regeln

Bei Verstößen gibt es temporäre Auszeiten in schweren oder wiederhohlten Fällen permanent.

*Der ICC und ICJ haben unter anderem zu folgenden Themen bereits eine Rechtsauffassung vertreten. Diskussionen darum werden gelöscht, Aussagen die grundsätzlich der Auffassung der Gerichte widersprechen als Desinformation gewertet:

https://news.un.org/en/story/2024/05/1149966
https://www.icj-cij.org/case/186
https://icj-cij.org/case/192

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Leena al-Madhun, 22, studierte Psychologie als die Hamas am 7. Oktober 2023 Israel angriff. Heute ist ihre Universität zerstört.

Mit ihren Eltern, zwei Geschwistern und einer Schwägerin ist Al-Madhun seit dem Beginn der israelischen Gegenschläge mehrmals geflohen, zuletzt aus ihrer Heimatstadt Beit Lahia im Norden nach Gaza-Stadt.

Von Oktober bis Dezember hat sie für ZEIT ONLINE Tagebuch geführt und dafür Nachrichten und Voicemails geschickt. Nicht alles davon lässt sich unabhängig prüfen.

Al-Madhun berichtet darin von Freunden, die getötet wurden, und kleinen Momenten, die ihr trotz allem Hoffnung machen.

  1. Oktober:

"Die israelische Armee ist diesen Monat wieder vorgerückt und kam unserem Stadtteil sehr nahe. Deshalb sind wir in ein Haus in Sultan westlich von Beit Lahia geflohen. Wir haben es von einer Familie gemietet, die wiederum in den Süden geflohen ist.

Nahrungsmittel sind knapp und teuer, nur Brot und Wasser sind einigermaßen bezahlbar – eine Tüte Brot kostet 15 Schekel, etwa vier Euro. Wir haben aber das Glück, dass es am Ende unserer Straße eine Wasserleitung gibt, die noch funktioniert.

Vorgestern wurden zwei meiner Freunde, Zakaria Abu Sultan und Yousef Abu Rabie, bei einem Luftschlag getötet. Sie arbeiteten mit mir bei Thamra, eine NGO, die Yousef und ich im Frühjahr gegründet haben.

Damals wurde der Norden von Gaza belagert, es drohte eine Hungersnot. Wir haben deshalb neue Setzlinge aus Samen gezogen, die wir in den Trümmern fanden, Wasserbrunnen repariert und den Menschen dabei geholfen, urbane Gärten anzulegen, damit sie sich selbst ernähren können. Der Tod der beiden nimmt mich und die anderen im Team sehr mit. Aber wir wollen unsere Arbeit fortsetzen."

  1. November:

"Es ist nicht einfach, unter ständigem Beschuss so etwas wie einen Alltag aufrechtzuerhalten. Heute war ich im Haus einer befreundeten Familie. Ich habe ein Feuer im Innenhof gemacht, um Tee zu kochen.

Kurz nachdem ich mit dem heißen Wasserkessel ins Haus gegangen war, schlug eine Bombe ein, wo ich eben noch gestanden hatte. Das hat mich sehr nachdenklich gemacht.

Gleichzeitig habe ich aber auch das Gefühl: Gott liebt mich und will, dass ich lebe. Seit dem Krieg sind viele Familien zerrissen, so wie meine.

Mein Bruder und zwei verheiratete Schwestern sind im Süden, eine weitere Schwester ist mittlerweile in Ägypten. Heute konnte ich kurz per Videoanruf mit meinem Bruder und einer meiner Schwestern und ihren Kindern sprechen.

Wir reden dann darüber, wie schön es wäre, wieder vereint zu sein, und wie sehr wir uns auf ihre Rückkehr freuen.

Danach bin ich auf die Felder gegangen, die wir mit Thamra bepflanzt haben, sie sind mittlerweile üppig und grün. Trotz allem, was um uns herum geschieht, hat mich dieser Anblick kurz glücklich gemacht."

  1. November:

"Wir sitzen schon seit Tagen in unserem Haus fest. Über uns kreisen ununterbrochen Drohnen. Nachbarn haben uns etwas Brot und Wasser über die Fenster gereicht.

Die Nacht zuvor war besonders schlimm, es war ununterbrochen Artillerie zu hören. Ich konnte die Funken der Einschläge sehen. Wir dachten, dass wir den nächsten Morgen vielleicht nicht mehr erleben.

Gegen Mittag ließ die israelische Armee über Lautsprecher verkünden, dass alle den Ort sofort verlassen müssen. Es ist bitter, aber in Gaza müssen wir Taschen mit dem Nötigsten immer bereitzuhalten. Wir müssen jederzeit damit rechnen, zu fliehen.

In unserem Gepäck hatten wir die wichtigsten Dokumente, wenige persönliche Sachen, Winterkleidung und einige Konserven. Die acht Kilometer von Beit Lahia nach Gaza-Stadt sind wir zu Fuß gelaufen, um uns herum hörten wir Explosionen."

  1. November:

"Als wir in Gaza-Stadt ankamen, waren wir erstmal ziemlich verloren, wir wussten nicht, wohin wir gehen sollten. Letztlich sind wir in einem Zelt im Palestine-Stadion untergekommen, wo auch sehr viele andere Familien Schutz gefunden haben.

In den ersten Tagen war es eine ziemliche Herausforderung, sich an diesen neuen Ort zu gewöhnen und herauszufinden, wo wir die nötigsten Dinge besorgen können. Ich habe nur ans reine Überleben gedacht.

Als erstes haben wir Matratzen und Decken für den Winter gekauft. Im Stadion gibt es keine Elektrizität, also laden wir unsere Geräte mit mobilen Solaranlagen auf. Wir müssen improvisieren, wo wir können.

Die Preise für Lebensmittel steigen immer noch, selbst die einfachsten Dinge sind Luxus. Ich freue mich, wenn ich mir mal eine Tasse Nescafé leisten kann. Ein Tütchen kostet derzeit sechs Schekel, etwa 1,50 Euro."

  1. Dezember:

"Die Lage hat sich für mich über die vergangenen Wochen etwas stabilisiert. Wir haben die Wohnung einer Familie gemietet, die in den Süden geflohen ist.

Früher mochte ich den Regen und habe ihn oft aus dem Fenster beobachtet. Aber unter den jetzigen Umständen, mit dem Winter und der Kälte, ist er mir unerträglich geworden. Immerhin haben wir wieder Strom.

Mit mir sind drei weitere Mitglieder des Thamra-Teams nach Gaza-Stadt geflohen. So weit wir wissen, sind die Baumschulen und Felder in Beit Lahia zerstört worden; wir konnten auf unserer Flucht auch keine Samen und Pflanzen mitnehmen.

In Gaza-Stadt haben wir es aber geschafft, durch Spenden neue Samen zu kaufen und Setzlinge zu pflanzen. Diese Woche konnten wir einige davon an geflohene Familien verteilen.

Außerdem hat mich eine private Initiative aus Großbritannien über die sozialen Medien zu unserer Arbeit kontaktiert. Ich habe ihnen ein Video geschickt, in dem ich über unser Engagement spreche. Für einen Video-Anruf ist die Internetverbindung leider immer noch zu instabil.

Das hat mich bestärkt, weiterzumachen und auf eine bessere Zukunft hinzuarbeiten. Wir säen gemeinsam die Saat der Hoffnung. Ich bin eine Tochter Gazas. Es ist mein Heimatland, der Ort meiner Kindheitserinnerungen. Ich verdiene es, hier in Frieden zu leben."

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[–] fantasty 2 points 2 days ago

Schön dass den Menschen eine Stimme gegeben wird aber ich finde es einfach nur ekelhaft von der Zeit und deutschen Journalisten generell wie hier berichtet wird. Es muss natürlich erstmal der „Angriff von Hamas auf Israel“ erwähnt haben als wäre der in einem Vakuum passiert und ein fucking VÖLKERMORD wird als „Gegenschlag“ bezeichnet. Ich bin mittlerweile nur noch entsetzt und vollständig entfremdet von der deutschen Politik und Medienlandschaft.

Sorry für den Rant aber der Bericht über die armen Menschen in Gaza, die ein Recht haben, in Würde und Freiheit zu leben, müsste gar nicht existieren wenn Deutschland diesen Genozid nicht unterstützen würde.